Über seine Lesegewohnheiten hat Tom Waits einmal verlauten lassen: „In letzter Zeit beschränkt sich meine Lektüre auf Verkehrszeichen und Speisekarten“. Auch eine mir nahestehende Spanierin, deren Belesenheit mich seinerzeit begeisterte, hat sich diesbezüglich verändert. Heute widmet sie 90 Prozent ihres Buchstabenkonsums den Etiketten auf Verpackungen. Sie kennt alle „E“s, weiß über Zusatzstoffe (Palmöl!!!) genau Bescheid, führt eine Liste boykottwürdiger Länder und Firmen, und wer sie beim Einkaufen begleitet, sollte dies nur in Lebensmittegeschäften tun, sonst droht der Hungertod. Bei der Lektüre einer sehr ausführlichen Bio-Pizza-Etikette in einem Supermarkt ist sie einmal von einem Kind angestupst worden, das dachte, sie sei eine Pappfigur.
Als Teilzeit-Revoluzzer kaufe ich bei Gelegenheit etwas Inkorrektes und genieße dann die Zurechtweisung wie eine Reality Show. Funktioniert wie auf Knopfdruck. Einmal brachte sie mich jedoch aus dem Gleichgewicht. Sie kramte ein von mir erworbenes Glas Spargel hervor, las die Etikette (ich beschreibe das jetzt im Zeitraffer …), hielt das Ding hoch und fragte: „Weißt du, woher das kommt?“ „Mir doch wurst.“ „Aus China!“ Und während mein Unterkiefer der Schwerkraft nachgab, fügte sie hinzu: „Auch auf Mallorca wird Spargel angebaut. Nur zur Info.“
Ich war not amused. Mir hätte schon im Supermarkt verdächtig sein müssen, wie stramm und diszipliniert und identisch diese Spargel im Glas standen. Aufgepasst: Ich habe nichts gegen Chinesen und zweifle keine Sekunde am Arbeitsethos der Spargelzupfer im Reich der Mitte. Ebenso wenig glaube ich, dass Tibet geholfen ist, wenn ich China-Spargel meide. Doch wenn ich an die 20.000 Kilometer denke, die jede Sprosse bis zu meinem Teller zurückgelegt hat, durchspülen mich Zweifel an der Rundheit der Globalisierung.
Dabei habe ich mein Schlüsselerlebnis als Null-Kilometer-Freak schon lange hinter mir. Dieses begab sich, als ich mich spaßeshalber politisch engagierte und schwuppdiwupp auf der Liste einer nationalistischen Mallorca-Partei für die Gemeinderatswahlen wiederfand. Bei den Nationalisten, fand ich, war mein Inselpatriotismus gut aufgehoben. Kalifornische Mandeln konnten dreimal so billig sein wie mallorquinische – lieber kaufte ich gar keine. Visca Mallorca!
Eines Tages wurde zu einer politischen Versammlung im Inselstil eingeladen: Eine halbe Stunde Politik, zwei Stunden Essen. Viele Teilnehmer brachten Wein mit. Doch wie ich meine Flaschen auf dem Getränketisch positionierte, stellte ich fest, dass mein Wein – der Wein des einzigen Ausländers in diesem Super-Mallorquiner-Treffen – der einzige aus Mallorca war. Meine laut geäußerte Verwunderung darüber, wie jäh den wortmächtigen Patrioten beim Weinkaufen der Nationalismus abhanden kam, wurde achselzuckend mit den Worten „zu teuer“ vom Tisch gewischt.
Der Gerechtigkeit halber füge ich hinzu, dass ich bei einem insulanischen Winzer-Pärchen bis ans Lebensende in der Schuld stehe, weil es meine Hochzeitsfeier gerettet hat. Lassen wir die Kirche im Dorf und die Spargel in Fernost, aber bitte nicht den Mallorca-Wein im Fass!
Thomas Fitzner ist Journalist
und Buchautor (u. a.„Das Geheimnis von Chateau Limeray“)
Infos unter www.thomasfitzner.com