IZ Kolumne Thomas Fitzner April 2024
Fragen Sie mich bitte nie nach einer Adresse
Vor vielen Jahren reiste ich nach Nicaragua. Damals hatte ich mir angewöhnt, in einer beliebigen Stadt des Globus zu landen und mich mit einer Straßenkarte, ein paar energischen Spaziergängen und anhand der örtlichen Verkehrslinien rasch zu orientieren.
Diese Methode stieß in Nicaraguas Hauptstadt auf ihre Grenzen. Das Zentrum von Managua war von zwei Erdbeben – 1931 und 1972 – weitgehend zerstört worden, weshalb die Stadt, als ich sie besuchte, praktisch nur aus Periperhie bestand, während das Zentrum ein Brachland war, in dem verstreut ein paar Prachtbau-Ruinen vor sich hinmoderten. Noch dazu waren die auf dem Stadtplan vermerkten Straßennamen in der Realität nirgendwo angeschrieben. Um eine Adresse anzugeben, bezog man sich auf markante stehende oder (noch tückischer) längst abgerissene oder zerstörte Bauten und rechnete von dort „Cuadras“ (Häuserblöcke) und „Varas“ (alte spanische Meter) nach Süden, Norden, oben (Westen) und unten (Osten, Richtung See). Dann setzte man eine Hausnummer hinzu. Es grenzte an ein Wunder, wenn man als Fremder etwas fand.
Also musste ich mich konstant durchfragen. Doch auch das funktionierte nicht immer. So suchte ich eines Tages nach dem „Museo Nacional“ und hatte mich bald solide verlaufen. In meiner Verzweiflung wandte ich mich an eine Verkäuferin, doch die starrte mich nur an und zuckte die Achseln. Als ich den Laden verließ, sah ich schräg gegenüber ein Gebäude, das museal wirkte. Allerdings gab es nach traditionell nigaraguanischer Art keinerlei Hinweise, die über den Zweck dieses Bauwerks Auskunft gegeben hätten. Kein Schild, keine Aufschrift, nichts. Ich betrat es schüchtern und entdeckte in einem Büro einen Angestellten, der mich von meiner Ignoranz befreite: Ja, dies sei das Museo Nacional. Was ich hier wolle?
In meinem Reisetagebuch merkte ich sarkastisch an, dass es mit der Bildungsrevolution im sandinistischen Staat wohl nicht so recht geklappt hatte. An diese Anekdote erinnerte ich mich vor kurzem, als ich vor meinem Haus auf Mallorca herumstand und ein Auto anhielt. Der Fahrer fragte mich, ob ich wüsste, wo denn im Dorf der „Carrer de Sant Esteban“ sei. Ich blies die Backen auf und zuckte die Achseln, denn ich hatte noch nie von dieser Straße gehört. Sicherheitshalber schickte ich den Besucher Richtung Dorfplatz. Der Fremde fuhr davon. Bevor ich ins Haus zurückging, warf ich einen kurzen Blick auf die Gasse, die keine zehn Meter von meiner Haustür entfernt von unserer Straße abzweigt. Und entdeckte ein Straßenschild, das in großen Lettern verkündete: „Carrer de Sant Esteban“.
Die Managua-Experience auf Mallorquinisch und mit vertauschten Rollen. Ich will nicht wissen, was der Fremde in sein Reisetagebuch schrieb. „Da stand ein Dorfbewohner dumpf und doof vor seinem Haus und kannte nicht mal den Namen der nächsten Gasse.“
Zu meiner Entlastung führe ich an, dass ich den Carrer de Sant Esteban immer nur als die Gasse der Schreinerwerkstatt gekannt habe. Wenn ich drüber nachdenke: Man hätte sie längst in Schreinergasse umbenennen sollen. Dann wäre das nicht passiert.
Thomas Fitzner ist Journalist
und Buchautor (u.a. „Deine fremde Tochter“)
Infos unter www.thomasfitzner.com