er Begriff „traditionell“ hat in kulinarischen Abhandlungen Hochkonjunktur. Tradition klingt bodenständig, erfahren und autochthon. Das macht Appetit. Nicht selten taucht der Feinschmecker in regionale Genüsse mit der wunderbaren Vorstellung ein, dass das, was Gaumen und Nase gerade schmeichelt, aus dem Land heraus geboren wurde. Eine Annahme, welche in Einzelfällen zwar zutreffen mag, der mallorquinischen Küche allerdings nicht einmal ansatzweise gerecht wird.
Über den Tellerrand hinaus
Überlieferte Rezepte der Vorfahren, die in einheimischen Familien gerne mit der nötigen Demut weitergegeben werden, prägen das kulinarische Mallorca bis heute. Die Zutaten für den zart-knusprigen Teig der Empanada dürfen Geheimnis bleiben. Und der Hierbas, angesetzt auf der heimischen Fensterbank der casita des kräutererfahrenen vecino schmeckt nun einmal besser als das handelsübliche Massenprodukt. Doch selten sind es die eigenen Vorfahren allein, die in einer ruhigen Minute auf Zubereitungsarten und, nicht zuletzt, Zutaten kamen. Ob frito, tumbet oder lechona, die mallorquinische Speise verdient stets den Blick über den Tellerrand hinaus. Die Ur-Großmutter wird es verzeihen.
Kultur brachte Küche
Grund hierfür ist die kulturelle Geschichte der Insel. Im Laufe der Jahrhunderte haben zahlreiche Kulturen ihre kulinarischen Spuren auf der Insel hinterlassen. Sie brachten nicht nur ihre eigenen Kochkünste mit, sondern verließen sich auch auf ihnen bekannte Zutaten aus der Heimat, meist Früchte, Gemüse und Kräuter. Diese bauten sie im fremden Land an. Ein Beispiel hierfür ist die Mandel.
Die Mandelblüte auf Mallorca ist ein alljährliches Spektakel. Farbenfroh in weiss und rosa präsentieren sich zu Anfang des Jahres weite Gebiete der Insel. Mandeln werden geröstet, gemahlen, sind Bestandteil von Soßen und Backwaren. Mallorca und die Mandel scheinen eine schon immer dagewesene Einheit zu sein. Doch ohne die Araber, die im 10. Jahrhundert nach Mallorca kamen, hätte die Mandel niemals die Insel erreicht und diese keinen so zauberhaften Publikumsmagneten in der sogenannten Nebensaison. Zudem müssten wir auf den köstlichen gató de almendra verzichten. Undenkbar!
Ähnlich ist es im Falle der empanada. Die gefüllte Pastete gehört mittlerweile in jede inselheimische Küche und ist aus den Bäckereiangeboten auf Mallorca nicht wegzudenken. Ein zarter Teigmantel mit einer schmackhaften Füllung, bestehend aus Gemüse, Hühner- oder Schweinefleisch. Eine besondere Form ist die panada de peix de roca, in ihrer ursprünglichen Art gefüllt mit Felsenfisch, Mangold, Petersilie und Paprika. Dabei handelt es sich allerdings nicht um ein mallorquinisches, sondern um ein altes, jüdisches Rezept aus dem 13. Jahrhundert.
Spezialität und Nutzen
In wohlhabenden Haushalten fanden auf diese Weise unverarbeitete oder übriggebliebene Reste eine delikate Renaissance. Man musste an nichts sparen, frische Produkte kamen jeden Tag auf den Tisch. Damit aber auch hier nichts in den Abfall wanderte, bildeten die traurigen Überbleibsel der Küche die glückliche Füllung der empanadas, die in gut betuchten Haushalten, umgeben von einem hauchdünnen Teigmantel, ebenfalls täglich hergestellt wurden.
Auch die Einheimischen, in der Mehrzahl arme Bauernfamilien, entdeckten die empanada für sich. Hier war die Teigware allerdings weniger kulinarisches Amuse-Gueule als vielmehr eine geschickte Möglichkeit, Speisen aufzubewahren. Nichts wurde weggeworfen, sondern schmackhaft verarbeitet. Der Teigmantel fiel eben etwas dicker aus. Aber man kochte nachhaltig.
Kochen war Strategie
Die heute von vielen Gastronomen der Insel wiederentdeckte oder umgesetzte, mallorquinische Küche mit alt überlieferten und modernen Ansprüchen angepassten Rezepten, hatte in ihren Ursprüngen wenig mit „Delikat-Essen“ zu tun. Ein Phänomen, das übrigens nicht nur auf und für Mallorca gilt.
Küche war schon immer Überlebensstrategie. Dass sich daraus – irgendwann – ausgezeichnete Speisen entwickeln würden, spielte anfangs keine Rolle. Vor allem nicht in Zeiten, in denen Michelin und Sterne Fremdwörter waren. Gerichte wurden fast immer aus der Not heraus geboren. Entweder, weil die Zutaten begrenzt waren, Produkte für „schwierige Zeiten“ gelagert werden mussten, oder nicht täglich frisch gekocht werden konnte.
Küchenvielfalt mit Geschichte
Letzteres bildete die Grundlage für Eintöpfe, die auf Mallorca schon immer beliebt waren und eine lange Tradition besitzen. Eine gute sopa ist nicht nur sättigend, sondern bietet jede Menge Möglichkeiten für Einlagen. Auf Mallorca konzentrierte man sich auf das, was in den meisten Fällen vorhanden oder leicht zu bekommen war: Brot und Gemüse. Ähnlich verhält es sich mit tumbet, dem mallorquinischen Gemüseeintopf, gleichermaßen Auffangschale und kulinarische Kür für frische Reste.
Historisch betrachtet gibt es durch die vielen, kulturellen Einflüsse der Vergangenheit heute eine unglaublich reiche und vielfältige Küche auf der Insel. Das einstmals Fremde schaffte immer mehr den Einzug in die einheimischen Küchen auf Mallorca, wurde innerhalb der Familien ergänzt, erweitert und den eigenen Vorlieben entsprechend angepasst. Aus diesem Grund ist das kulinarische Mallorca, das wir heute kennen und schätzen, eine geformte Tradition aus fremden Prägungen und heimischen Vorlieben. Allein das macht Lust auf mehr.