Die „Arme“ Seite des reichen Mallorcas – SI-Mallorca hilft
„Die Bürokratie lässt Menschen am langen Arm verhungern“
Anja Dauber und Ralf Goy, Gründer des sozialen Hilfevereins „SI Mallorca“, über die Zunahme von Arbeitnehmer-Armut und mangelnde staatliche Unterstützung auf der Insel
Ein ständig leerer Kühlschrank, ein auf der Parkbank schlafender Obdachloser, eine von der Polizei zwangsgeräumte Wohnung, eine nicht zu bezahlende Stromrechnung oder die permanent zerschlissenen Kleider von Schulkindern: Die Armut auf Mallorca hat viele Gesichter.
Anja Dauber und Ralf Goy kennen sie fast alle. Mit ihrem Hilfeverein „SI Mallorca“ unterstützen die beiden in Llucmajor beheimateten Deutschen seit rund fünf Jahren viele, in soziale Not geratene Menschen auf der Insel. Und deren Zahl wird auf Mallorca trotz immer neuer Rekorde in der Tourismusbranche ständig größer.
Wie viele arme Menschen leben auf den Balearen? Das ist sehr schwierig zu beantworten. Nach Zahlen des nationalen Statistikamtes leben fast 22 Prozent aller Insel-Bewohner an der Armutsgrenze, sprich, haben extreme Schwierigkeiten, mit eigenen finanziellen Mitteln ihre Grundbedürfnisse zum Leben wie Essen oder Wohnen abzudecken. Nur eines ist klar: Es werden täglich mehr.Wo liegen die Gründe dafür, dass immer mehr Menschen, die in einer der angeblich reichsten Regionen Spaniens wohnen, in die Misere rutschen? Es ist wichtig zu verstehen, dass Armut heutzutage nicht immer gleich bedeutet, dass man als Obdachloser auf der Straße haust. Im Regelfall handelt es sich vielmehr um Menschen, die für einen im wahrsten Sinne des Wortes Hungerlohn arbeiten. Insbesondere in der hiesigen Tourismusbranche.
Wie ist das möglich? Ein Beispiel aus unserer Arbeit: Eine alleinstehende junge Mutter mit zwei kleinen Kindern bekommt als Zimmermädchen in einem Hotel einen Monatslohn von knapp 800 Euro im Monat. Davon muss sie Miete, Strom, Telefon, Essen, Schulmaterial und andere Ausgaben bezahlen.Da bleibt nicht viel am Ende des Monats übrig… Nehmen wir mal an, es reicht auf wunderbare Weise irgendwie. Dank der 2014 von der spanischen Regierung eingeführten Arbeitsrechtsreform dürfen Unternehmen auf drei Monate befristete Kurzzeitverträge abschließen, die je nach Belieben des Arbeitgebers verlängert oder gekündigt werden können. Nach Saisonende und ihrer Kündigung kann das Zimmermädchen also zwar Arbeitslosengeld beantragen, doch das reicht dann wirklich nicht mehr hinten und nicht vorne.
In vielen Medien wurde berichtet, dass Arbeitslose in Spanien jetzt auch eine Art „Hartz IV“ wie in Deutschland erhalten könnten. Diese sogenannte „Renta mínima garantizada“ existiert in der Praxis eigentlich kaum. Grund dafür sind die Mindestbedingungen, die für die Beantragung daran geknüpft sind. In Deutschland hat jeder Anspruch auf Sozialgeld. Egal, ob er arbeitet oder nicht. Das ist in Spanien gänzlich anders. Beziehungsweise auf den Balearen.
Warum speziell auf den Balearen? Im Gegensatz zu Deutschland, wo in allen Ländern die gleichen Vorgaben für die Vergabe von sozialer Unterstützung gelten, bestimmen in Spanien die einzelnen „autonomen Regionen“ selbst, welche finanzielle Mittel sie für soziale Notdürftige bereit stellen. Ein gutes Beispiel hierfür ist auch der Preis für das Schulessen an öffentlichen Schulen.
Wieso? In der Region Madrid beispielsweise darf ein Schulessen nicht mehr als 4,50 Euro pro Schüler und Tag kosten. Auf den Balearen gibt es keine Preisbegrenzung. Hier liegen die Kosten für die Schulspeisung zwischen 6,50 und 8,50 Euro pro Tag. Das ist gerade für alleinerziehende Mütter eine oftmals kaum zu bewältigende, finanzielle Belastung.
Wie sieht es mit Kindergeld auf Mallorca aus? Staatliches Kindergeld – wir reden dabei übrigens von gerade einmal 30 Euro pro Monat – steht ausschließlich alleinerziehenden Mütter in einem Beschäftigungsverhältnis zu. Arbeitslose bekommen auf den Balearen gar nichts.
Wen trifft die soziale Misere auf der Insel am härtesten? Im Regelfall sind es alleinerziehende Mütter oder Menschen, die aufgrund einer Krankheit nicht mehr arbeiten können. Wie helfen die öffentlichen Sozialeinrichtungen? Sehr schleppend. Häufig vergehen bis zu sechs Monate von der Antragstellung bis zur ersten finanziellen Stütze. Die Bürokratie lässt also viele Menschen am langen Arm regelrecht verhungern.
Wie hilft „SI Mallorca“? Wir haben damals mit Spendensammlungen für Lebensmittel für bedürftige Familien und Kinderheime begonnen. Mittlerweile liegt der Schwerpunkt unserer Arbeit auf der Familiennothilfe. Was ist darunter zu verstehen? Wir suchen beispielsweise bei Zwangsräumungen eine Ersatzbleibe für Familien oder alleinstehende Mütter mit Kindern. Oder Paten, die Familien bei der Zahlung der Schulspeisen unterstützen.
Wie wichtig sind private Initiativen zur Linderung der sozialen Misere? Auch wenn man sich das auf Mallorca kaum vorstellen kann: Ohne private Hilfe und Wohltäter geht heutzutage kaum etwas. Der Hilfsverein „SI Mallorca“ braucht für seine Arbeit dringend Spenden und Paten.
Weitere Infos unter www.si-mallorca.org.
Andreas John